Instaflame.

Instaflame

Eine Geschichte über Poesie, Social Media und Hater

„Sie haben 112 neue Benachrichtigungen! Bling!“ Ein süßlicher und zugleich selbstsicherer Klang, so wie ihn nur eine weibliche Computerstimme haben kann, weckt Hannes aus dem Schlaf. Als würde eine liebevolle und erfolgreiche Geschäftsfrau zu ihm sprechen. Ihn geduldig und dezent darauf hinweisen, dass er sich doch endlich seiner Post widmen soll. So einfach, wie sich diese Stimme in seine Träume einbauen lässt, ist es kein Wunder, dass er regelmäßig wieder einschläft. Denn eigentlich war er schon wach gewesen, ist dann aber noch zweimal mit dem Smartphone in der Hand, das gleichzeitig als sein Wecker fungiert, wieder eingeschlafen.

Sowas passiert ihm ständig. Beim ersten Klingeln nimmt er das Smartphone gewöhnlich in die Hand und tippt dann lange mit den Fingern auf dem Display herum, so als würde er Klavier spielen. Diese Morgentausonaten dauern solange an, bis das verdammte Ding endlich Ruhe gibt. Das geschieht nach Melodien, die ihm sein Unterbewusstsein großzügiger Weise ohne jegliche Gegenleistung zukommen lässt. Erst einmal von der Muse geküsst, spielt er mal ruhig und entspannt, mal hektisch und mit Anklängen der Wut. Danach schläft er wieder ein. Wenn man es denn noch Schlaf nennen kann. Oft döst er einfach lange ruhig vor sich hin und segelt im Halbschlaf ziellos auf den letzten Wellen der Traumwelt ins Nirgendwo. Nicht selten spielt er mit den Fingern selbst in diesem Zustand weiterhin auf dem Display herum. Dabei passieren ihm mitunter kuriose Dinge. Manchmal ruft er zufällig und ungewollt irgendwen aus seiner Kontaktliste an. Das ist peinlich, führt in der Regel aber zu geringen Schäden.

Die bitterste Erfahrung war wahrscheinlich der versehentliche Anruf bei seiner Ex. Logisch, dass die ehemalige Angebetete den Anruf sogleich als romantische Avance interpretierte, die es allerdings ganz sicherlich nicht sein sollte. Aber so kurz nach der Trennung konnte die Aktion natürlich nur zu schmerzhaften Gefühlsausbrüchen führen. Die Flamme glomm nun mal in ihrem Unterholz noch vor sich hin. Jedoch hatte Hannes genug von Waldbränden und wollte nichts anderes als sie sofort ersticken. Seit er einen gewissen „Fame“ erlangt hatte, brauchte er Sybille nicht mehr. Sie war nur ein emotionaler Platzhalter für ihn gewesen. Peinlich und unangenehm ihr dies nochmal am Telefon erklären zu müssen. Aber sei es drum, er hat das moralische Lehrgeld bezahlt.

Manchmal lässt ihn der Halbschlaf aber auch physisch zahlen. Letzte Woche hatte er um 7:30 per App vollautomatisch einen XXL- Döner mit Pommes bestellt. Zum Frühstück war das ein ganz schön heftig deftiges Mahl. Doch Hannes schmeißt nie etwas weg, und Strafe muss sein. Der Knoblauchgeruch wollte auch nach dreimal hintereinander Zähneputzen nicht verschwinden. Noch gefährlicher waren die Vorfälle, als er sich in die Onlinebanking-App einloggte. Soviel Geld, wie er im Schlaf auf fremde Konten überweisen wollte, hatte er zum Glück gar nicht auf der hohen Kante und so wurden die Transaktionen abgebrochen. Nochmal Glück gehabt. Aber wenn er so weitermacht, wird es irgendwann schon noch schiefgehen. Alles Dank dieser Traummelodien, die den Fingern unharmonische Rhythmen diktieren.

Heute kommt er zum Glück ohne morgendliche Peinlichkeit aus. Als er aufs Display schaut, scheint alles im Normalzustand zu sein. Seufzend richtet er sich auf, es ist 9:40 und Zeit, seine Benachrichtigungen auf Instaflame durchzulesen. Er weiß schon, worum es sich handelt. Die meisten werden positive Rezessionen zu seinen neuesten Poesie-Sammelwerken „Liebesschweben auf dem rosa Band“ und „Übersähe mich mit Küssen beim Schmechtelmechteln in Paris“ sein.

Demotiviert scrollt er die Benachrichtigungsliste hinunter und liest gelangweilt den übrigen Stuss: „Hannes, ich bin dein größter Fan, höre mit dem Schreiben nie auf!“ oder „Fantastisch, deine Werke sind eine einzigartige Inspiration für alle, die zu unseren tristen Zeiten lieben und geliebt werden wollen!“ oder „Unglaublich, du bringst mein Herz mit deinen Worten zum Schmelzen. Als hättest Du die Liebe erfunden!“. Dabei ist Hannes gar nicht nach Liebe zumute. Vielleicht, gerade weil er mit ihr so wenig am Hut hat, fällt es ihm leichter, über sie zu schreiben! Sei es drum, als berühmter Dichter muss er damit leben, täglich Unfug zu lesen, nicht nur seinen eigenen.

Er hatte sich das ganze Stardichtersein nur ein wenig erfüllender vorgestellt. Soll er etwa froh darüber sein, dass sich ihm diese Fähnchen im Wind bis hin zu seinen Füßen knicken? Jeden Tag die triviale Tatsache feiern, dass sich die Sonnenblumen zur Sonne hin orientieren?  Und so geht es dann weiter, bis er eines Tages nach paar tausend, verkauften Exemplaren seiner Poesie den Hut an den Nagel hängt und sagt „Welch eine Erfüllung, ich habe ein paar Lemmingen das Leben bis zum Sturz von der Klippe etwas unterhaltsamer gestaltet, jetzt ist es auch Zeit für mich zu gehen!“?

Nein, seine Karriere soll nicht wie ein löchriges Schlauchboot auf dem großen Meer der vergessenen Poeten dahin dümpeln. Es muss doch einen Weg geben, diesem monotonen Leben in der Mittelmäßigkeit zu entkommen! Richtige Künstler sind skandalös, sie teilen und vereinen, provozieren wahre Gefühle der Leidenschaft und ziehen Fanatismus und Hass auf sich! Seine Welt soll in lodernden Flammen brennen, nicht im Funkenregen ausgeräuchert werden! Doch egal wie viele digitale Kilometer Hannes auch beim Scrollen zurücklegt, nichts als Speichellecker, Schleimer und Aufmerksamkeitshäscher wohin das Auge reicht. Immer dasselbe, zum Verzweifeln.

Einen Moment, Stopp! Hannes Hand hält auf einmal inne und seine Augen weiten sich! Er hat etwas entdeckt. Nicht alle Posts sind gleich, nein, dieser eine hier hat etwas zu bedeuten, er ist anders, er ist authentisch, er kommt von Herzen. Hannes kommen Hitzewallungen auf. Sein Herz, das Herzstück unter den Organen eines Poeten, macht sich plötzlich spürbar. „Endlich“, denkt er sich, „ich habe es geschafft“! In einem Hochgefühl des Triumphs springt Hannes auf das Bett. Obwohl er alleine in seinem Zimmer haust, liest er die Nachricht laut vor. Er will die Worte ausgesprochen hören. „Du verdamter kleiner Hurenson! Deine Gedichte sind echt Scheise, voll schwul mir kommt das kotzen! Hahahah du Opfer!“. Der Eintrag wurde gepostet von „Dragonslayer_78“.

Welch ein Glück, dass ihm dieser Post zu Augen gekommen ist, bevor Instaflame ihn löschen ließ. Seid die Meinungsfreiheit den Kampf gegen die guten Manieren verloren hat, ist es schwer, in Genuss von erfrischend ehrlicher hate speech zu kommen. Auf der anderen Seite löscht Instaflame auch nicht gerne beleidigende und provokante Inhalte. Deren Geschäftsmodell ist schließlich auf hitzige Diskussionen, ausufernde Emotionen und feiges Mobbing ausgelegt. Außerdem macht es den firmeninternen Kontrolleuren bestimmt eine Menge Spaß, ihr Netz nach den heftigsten Beleidigungen zu durchforsten und sich dann genüsslich bei einer Tasse Tee am PC darüber zu amüsieren. Warum also dagegen ankämpfen? Den Spaß will man sich doch nicht selbst zerstören!

Hannes hat nun Blut geleckt. Mit Lob überschüttet werden, dass kann im digitalen Zeitalter ein Jeder. So mancher Influencer oder Hobbyist kauft sich gar Werbung und positive Rezensionen, als ob aus gekauftem Rauch ein Braten erwachsen könnte. Aber ehrlicher Hass entsteht nur aus Missgunst. Jemand ist sauer, weil er denkt, Hannes besitzt oder bekommt mehr, als es ihm zusteht. Jemand unterstellt Hannes, er fühle sich überlegen aufgrund seiner künstlerischen Tätigkeiten. Er reite eitel und selbstverliebt auf einem hohen Ross. Dieser Hater ist ein Glücksfund! Wen schert es da, dass dieser jemand Hannes am liebsten runterfallen und sich alle Knochen brechen sehen täte – es ist purer Neid und Neid hegt man vor Personen, die etwas geschafft haben, erlangt haben oder etwas besitzen, dass man selber gerne hätte. Welche Form der Anerkennung könnte größer sein?! Genau diese Anerkennung ist es, die Hannes jetzt anspornt, er muss mehr über seinen Hater in Erfahrung bringen.

Neugierig klickt er auf den Namen neben dem miniaturisierten Profilbild. „Hm…. Wer bist du Dragonslayer_78?“. Das Bild selbst gibt leider nicht viel Aufschluss. Es ist ein Fantasiebild von einem schwarzen Ritter, der sich auf einem gewaltigen Schwert abstützt. Im Hintergrund liegt in Nebelschwaden gehüllt ein gewaltiger, toter, roter Drache. Hannes fährt sich nachdenklich mit dem Finger über die Lippen. Wie rau und spröde sie sind. Entweder hat er es hier mit einem richtigen Rowdy zu tun oder aber mit einem pubertären Jugendlichen, der Drachenschlachten für ein cooles Hobby hält, mit dem er sich Respekt bei Gleichaltrigen verschaffen kann. Hannes würde auf den zweiten Fall tippen, wäre da nicht ein kleines Detail: Und zwar die 78 im Namen. Welch anderen Sinn könnte diese Nummer haben, als das Geburtsjahr preiszugeben? Gut, wäre es eine 88, dann würde er eine nicht allzu freundliche, politische Vorliebe in Verdacht haben. 007 könnte ein Agentenfilmfreund sein. 123 jemand, dessen Accountname bei Anmeldung schon vergeben war und er zu faul, sich einen neuen auszudenken. Aber die Zahl 78 sagt einfach mal so gar nichts aus. „Wir kommen der Sache immer näher!“. Hannes muss weiter nachforschen. Zu seinem Glück ist Instaflame an sich nichts anderes als ein reines Spionageinstrument und sensible Informationen werden Interessierten, Spannern und zufällig Vorbeischauenden kostenlos auf dem Silbertablett serviert, egal ob sie bestellt wurden oder nicht.

Jedoch scheint Dragonslayer_78 leider nicht vom exhibitionistischen Schlag zu sein, nicht ein eigenes, persönliches Foto ist in seiner Timeline oder Gallery vorzufinden. Und das auf Instaflame! Das stelle sich mal einer vor! Absurd!

Nun gut, wenn er auch keine Fotos von sich ins Netz stellt, so ist er zumindest dennoch aktiv. Zum Beispiel wirkt es so, als würde er sich für Politik interessieren. An seinem Kühlschrank hängt ein gemaltes Bild mehrerer hochrangiger Politiker aus unserem Lande oder besser gesagt, simple Karikaturen derer. Soweit nichts Außergewöhnliches. Nur ein kleines Detail stört: Sie haben alle einen gemalten Strick um den Hals und unter ihren Füßen steht in krakeliger Schrift geschrieben „zeit das mal richtige Nürnberger prozese gemacht werdn!“. Das klingt nicht sonderlich sympathisch. Aber ein Hater bleibt nun mal ein Hater und Hannes fühlt sich ihm etwas schuldig. Immerhin ist es für Hannes eine Bestätigung seiner These, dass die 88 für den Drachentöter politisch die richtige Zahlenwahl gewesen wäre und die 78 wohl wirklich das Alter repräsentiert.

Hannes scrollt weiter runter und wieder fällt ihm etwas auf. Ja, das gibt es doch nicht! Dragonslayer_78 scheint genau wie er in Berlin zu wohnen! Vielleicht nicht zu denselben Wohnkonditionen, aber in derselben Stadt. Den Plattenbau, aus dem von einem Balkon geschossenen Fotos, unter dessen „blik auf mein reich!“ geschrieben steht, kennt er doch! Das ist eindeutig in Marzahn! Und aus diesem Blickwinkel, mit Sicht auf die anderen Plattenbauten, ist es auch gar nicht schwer zu erraten, aus welchem Gebäude genau dieses Foto geschossen wurde. Die Soße kommt dem Braten immer näher. Hannes studiert die Fotos aufmerksam. Dann lehnt er sich zurück an die Wand hinterm Bett und grinst zufrieden. „Ich glaube, ich habe alles verstanden, das sollte an Informationen reichen! Dragonslayer_78…mach dich bereit für unsere Begegnung!“.

Es ist ein frischer Herbsttag. Kein Regentropfen fällt, aber dennoch ist es nicht allzu gemütlich draußen. Die Sonne steht niedrig am Himmel, doch ist sie hinter diesem typischen, grauen Novemberschleier versteckt, der ihr jegliche Form nimmt und die Welt in ein trübes, mattes Licht taucht. Hannes hat sich passend zur Atmosphäre einen Asche-farbigen Trenchcoat angezogen und eine großglasige Sonnenbrille aufgesetzt. Zwar ist er keine Berühmtheit eines solchen Ausmaßes, die eine Tarnung nötig hätte, um sich ruhig auf den hiesigen Straßen bewegen zu können, dennoch will er tunlichst vermeiden, von irgendwem erkannt zu werden. Es wäre sein finsterster Alptraum, wenn jetzt plötzlich ein begeisterter Fan aus einer Ecke hervorpoppen würde und ihn mit überflüssigem Lob überhäufen täte. Dann müsste er womöglich noch ein Selfie mit ihm machen, welches letztendlich in dem digitalen Nirwana nichtiger Datenverschmutzung enden würde. Alles nur in der Hoffnung des vermeintlichen Fans, sich eines Tages mit dieser Begegnung brüsten zu können, sollte Hannes wieder erwarten je mehr Erfolg haben, als es ihm selbst vorstellbar wäre. Nein, lieber wie ein Möchtegern-Geheimagent durch die Straßen schlurfen, als so eine Demütigung über sich ergehen zu lassen.

In schnellen Schritten stapft er über den mit feuchten und quietschenden Blättern übersäten Asphalt. In der Luft schwebt dieser typische herbstliche Duft von nasser Straße und verrottenden Bäumen. Er zieht sich den Anzug hoch bis ans Kinn und stapft geradewegs Richtung des Kiosks mit dem kreativen Namen „Das Ecktreff“. Der Name rührt wohl daher, dass er sich an einer Straßenecke befindet und zum Treffen einlädt. Positionsmäßig zumindest, ausstattungsmäßig weniger.

Um nicht aufzufallen, bestellt sich Hannes einen Kaffee und lehnt sich an einen der hinteren Stehtische. Auch wenn er sich in einer der heruntergekommensten Straßen der Stadt befindet, so hat der Tag etwas angenehm Uriges, Atmosphärisches an sich. Das Grau vom Himmel und dem Asphalt stehen in krassem Kontrast zu der Flut an gelb-orange-roten Blättern auf dem Boden und an den Bäumen. Die Luft ist kühl, doch die Hitze vom Kaffeebecher brennt sich in seine Hand. Ein Ort und Tag der Kontraste. Nun braucht es Geduld und etwas Glück. Aufmerksam mustert er die Leute, die vorbeikommen und wieder von Dannen ziehen. Da laufen schon ein paar interessante Gestalten rum, hier in Marzahn. „Dragonslayer_78… Bald kommt es zur Begegnung, du weißt nur noch nichts von deinem Glück!“, murmelt Hannes und nimmt einen Schluck, an dem er sich beinahe die Zungenspitze verbrennt. Ein wenig bleibt ihm dieses pelzig-taube Gefühl im Mund zurück. Aber Hannes stört sich nicht dran, seine Sinne sind geschärft und er ist konzentriert.

Ist es dieser breitschultrige Bodybuilder? Er hätte sicherlich die Kraft, einen Drachen zu erlegen. Aber unwahrscheinlich, denn auf dem Instaflame-Account wurden keine Fotos geteilt, die Rückschlüsse auf Training zulassen würde. Wer so mit Muskeln bespickt ist, der muss von der Idee besessen sein, den Körper in reine Muskelmasse zu verwandeln und diesen Prozess der ganzen Welt zu zeigen. Posen ohne Posten ist selten. Das ist nicht unser Mann. Geduld!

Könnte es dieser übergewichtige Hooligan sein? Rotes Trikot, böse Tattoos quer über den Körper, respekteinflößender, rasierter Schädel mit fiesem Tunnelblick und dicken, goldenen Ohrringen. Alles ganz so, als ob er in seiner Freizeit Drachen gerne mal eine Kopfnuss verpasst. Jedoch waren auf dem Instaflame Account von  Dragonslayer_78 keine Hinweise auf ein ausgeprägtes Sportinteresse zu finden, auch nicht vom Sofa aus. Und unser Bolle hier hat sich sogar einen Pokal auf den Hals tätowieren lassen. Äußerst unwahrscheinlicher Kandidat. Geduld!

Eine halbe Stunde ist vorbei und noch immer hat kein echter Verdächtigter vorbeigeschaut. Hannes bestellt sich schon den zweiten Kaffee. „Kaffee ist aus!“ Entgegnet ihm der Kioskbesitzer schroff. „Könnt ihr mir denn etwas anderes anbieten? Einen Eistee zum Beispiel?“ „Neeee… Wir haben hier Bier und Wodka…und…“ „Schon gut, ein Bier bitte!“. Hannes überlegt. Vielleicht muss er den Kreis der Verdächtigen weiter aufziehen? Auch wenn die Onlinepräsenz von Dragonslayer_78 nicht wirklich feminin erscheint, kann er ausschließen, dass es sich bei ihr um eine Frau handelt? Vielleicht ist es die Dame dort hinten mit der Jogging-Hose und der Zigarette hinter dem Ohr? Auch sie scheint in der Laune zu sein, Drachen mit der bloßen Hand in Stücke zu zerreißen!

Hannes mustert die Frau genauer. „Ey, was glotzt du mir denn so frech auf die Titten?“, schnauzt sie ihn plötzlich an und rotzt demonstrativ in seine Richtung auf den Boden. „Tschuldigung!“. Nein, auch sie kommt nicht in Frage, schließlich trug sie ein T-Shirt der ultra-populistischen Rechts-Linkspartei, dabei hatte Hannes auf der Instaflame-Seite vom Drachentöter in der geposteten Karikatur auch einen Strick um den Hals deren Anführerin „Magenbrecht“ gesehen. Geduld!

Die Frau zieht ab, und Hannes verliert langsam aber sicher den Mut. Inzwischen ist ihm beim Warten auch ganz schön kühl geworden. Der Kaffeemantel wärmte besser als die Bierjacke. Vielleicht muss er sein Weltbild noch weiter umkonstruieren. Könnte der Gesuchte womöglich dieser senegalesische Priester sein? Das wäre wirklich eine überraschende Wendung für Hannes. Aber wieso nicht? Drachen findet man in so vielen Mythologien vor, vielleicht gelten sie ja in Afrika als eine Ausgeburt des Bösen und das Profilbild stellt somit eine heilige Botschaft dar. Zugegeben, der Gedanke ist Hannes ein bisschen befremdlich. So ganz würde ein farbiger Prophet, der Hasstexte unter Poesie verfasst, von seinem „Reich“ spricht und Bilder von gehängten, deutschen Politikern zeigt, nicht in sein Weltbild passen… und zugleich schämt er sich für den Gedanken, ihn als Kandidaten für abwegig zu halten und vorschnell ausschließen zu wollen. Im 21. Jahrhundert sollte man Äußerlichkeiten doch nun wirklich keinen großen Wert mehr beimessen. Interessiert lauscht Hannes den Gesprächsfetzen zwischen dem Senegalesen und dem Kioskbesitzer. „Wie, Kaffee ist aus?“ – „Ja ich sage es doch, Junge, hier kannst du Bier haben oder etwas Hartes, was anderes gibt’s heut nicht mehr!“ – „Aber ich trinke doch kein Alkohol!“ Und schon wieder schwindet die Hoffnung, seinen Mann gefunden zu haben, dahin. Dieser letzte Satz disqualifiziert den Kandidaten in Femtosekunden Geschwindigkeit. Aus mit der Geduld. Hannes seufzt, bereit dazu, sich auf den Weg nach Hause zu machen.

Die ersten Schritte des Heimwegs schon hinter sich gelassen, horcht Hannes plötzlich wieder auf, als er am Kiosk in seinem Rücken eine hohe, männliche Stimme vernimmt. „Einmal Herrengedeck!“. Hannes dreht sich in einem Ruck um. Da sieht er ihn stehen. Ihn. Seinen Mann. Klein, untersetzt, kahlköpfig, mit langer Nase und im Trainingsanzug. Hannes ruft laut und mit aufgeregter Stimme „Dragonslayer_78?“. Erschrocken dreht sich der kleine Mann zu Hannes um und lässt beinahe sein Bier und das kleine Glas mit Korn fallen. Volltreffer!

„J-j-ja… Wer bist du?“, stottert dieser. So nervös hat er sich seinen Drachentöter eigentlich nicht vorgestellt. Was am meisten an einen Drachen erinnert, sind seine echsenähnlichen, kleinen Augen. Aber was soll es, das ist sein Mann. „Entschuldigen Sie, ich hätte sie nicht so überfallen dürfen! Ich wollte Sie nur unbedingt kennenlernen. Warten Sie, ich kann ihnen alles erklären!“ Doch der Mann unterbricht Hannes. „Woher kennst du den Namen meines Instaflames?“. Der kleine Mann bemüht sich autoritär zu klingen, doch er stammelt. Mit seiner langen Nase und den kleinen Äuglein, die vor Schreck aber unheimlich groß geworden sind, bereitet er Hannes fast Mitleid.

„Um ehrlich zu sein, habe ich erraten, dass sie es sind. Ich habe auf ihrer Instaflame-Seite das untertitelte Bild „ein tägliches Herrengedeck für die Herrenrasse!“ mit diesem Kiosk im Hintergrund entdeckt. Da dachte ich, ich leg mich hier einfach mal auf die Lauer!“. Hannes klingt nun stolz und triumphierend, weil seine Schatzsuche so erfolgreich war, bemerkt aber sogleich, dass seine Worte nicht gerade Vertrauen erwecken. Die angespannte Körperhaltung, die zugekniffenen Augen, die geballte Faust – all das will Hannes so gar nicht gefallen.

Es wäre wohl besser sich schnell ein wenig präziser zu erklären. „Entschuldigen sie, ich bin eigentlich kein Spion. In Wirklichkeit bin ich der Poet „Hannes Marveuleux“, dessen Gedichtband sie online so zerrissen haben und ich wollte ihnen dank…“, aber Hannes kann den Satz nicht zu Ende sprechen. „Nein, nein, nein!“ stammelt der kleine Mann aufgeregt und wird knallrot im Gesicht! Hannes weicht ein bisschen zurück. Hatte er es zu weit getrieben? Droht ihm jetzt Prügel von dem kleinen Gesellen? Man darf sich aufgrund der Größe nicht irreleiten, die Leute aus diesem Milieu sind raubeinig! Erst böse Worte, dann böse Schläge? „Entschuldige nochmals, ich hätte Sie wirklich nicht überfallen dürfen! Aber bitte schlagen sie mich nicht!“. Hannes geht in die „sich-verteidigende-Igel-Fötus-Stellung-auf-einem-Bein-über“, bei der er die Arme schützend vor dem Oberkörper verschränkt und das rechte Bein vor die Weichteile hebt.

„Schlagen? Aber nein, nein, ich will nicht schlagen!“. Hannes lockert die Position und nimmt die Arme etwas runter, leicht verdutzt schaut er in das immer noch rote, aber nun lächelnde Gesicht des kleinen Mannes. „Ich will nicht Schlagen! Ich bin dein größter Fan!“. Nun ist Hannes vollkommen verwirrt. Und enttäuscht. Größter Fan? Fast wäre es ihm lieber gewesen, der Mann hätte ihm ins Gesicht geschlagen, anstatt in sein Herz. „Ich liebe deine Gedichte!“. Der kleine Mann scheint sich in Euphorie zu reden. „Aber das ist nicht wahr! Sie haben meine Gedichte doch als „Scheiße“ bezeichnet und mich einen „Hurensohn“ genannt!“.

Der kleine Mann wirkt wieder verlegen, aber er winkt ab. „Aber das war doch nur auf Instaflame! Ich schreib auf Instaflame nur, wenn ich wütend bin! Auf die Politiker… auf die Weiber…auf die Welt, ist doch alles Mist!“ Der Dragonslayer ist drauf und dran sich in Rage zu reden, dann schaut er Hannes ins Gesicht und sein Blick erhellt sich wieder, „Hab halt wenige Freunde… da musste ich meine Wut an dir auslassen! Hat mir auch der Arzt so gesagt! Aber zum Glück gibt es dich! Ich liebe deine Gedichte! Ich lese sie immerzu! So geil! Hey, können wir ein Selfie für Instaflame machen?“. Diesmal fängt Hannes an zu stammeln, während er im Rückwärtsschritt die Flucht antritt. „Nein, nein, nein, nein, das kann nicht sein, das darf nicht wahr sein!“ Hannes dreht sich um und beginnt zu laufen! „Aber das Selfie…ich tu es auch wirklich nur auf Instaflame!“ ruft ihm sein treuer Fan hinterher.

Zu Hause angekommen macht sich Hannes ein Herrengedeck, aber das Bier lässt er einfach weg. Korn passt genau zu seiner Gemütslage. „Ich wollte doch einfach nur mal einen Hater meiner Kunst haben, ist das denn zu viel verlangt?!“. Schluchzend nimmt er einen tiefen Schluck. Das Leben kann manchmal grausam verwirrend und voller böser Überraschungen sein. Aber auch positiver. Denn genau in diesem Moment geschieht etwas Wunderbares. Ihn küsst die Muse. Nicht die der Zwölftonmusik auf dem Handy, die Muse der Poesie. Er wird ein Gedicht über diesen Vorfall schreiben. Oder eine Kurzgeschichte. Es ist alles schon bereit in seinem Kopf. Besessen macht er sich an die Arbeit. Das wird gut werden. Aber das fertige Werk wird er mit Sicherheit nicht auf Instaflame bewerben! Oder etwa doch? Like oder beleidige diese Story, sollte sie dir gefallen haben!

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